Die Wolfspopulation entwickelt sich in Deutschland seit Jahren rasant nach oben. Politisch eingreifen will die Regierung bislang nur bei „Problemwölfen“. (c) IMAGO/Blickwinkel

Praxisleitfaden Wolf: Extrem hohe Hürden

Mit dem unverbindlichen Praxisleitfaden Wolf geben die Umweltminister der Länder Empfehlungen, wie Problemwölfe getötet werden können, ohne dabei gegen Recht zu verstoßen. Für Weidetierhalter ist das wenig erbaulich.

Von Frank Hartmann

Es ist 21 Jahre her, dass nach Jahrzehnten wieder Nachwuchs bei eingewanderten Wölfen beobachtet wurde. Das bundesweit erste Rudel in Ostsachsen elektrisierte nicht nur Naturschützer. Verantwortliche Politiker lobten ihren umweltpolitischen Erfolg.

Mindestens 157 Wolfsrudel, 14.000 tote Weidetiere und viele Millionen Euro später legten die Umweltminister der Länder kürzlich den „Praxisleitfaden zur Erteilung artenschutzrechtlicher Ausnahmen nach §§ 45 und 45a BNatSchG beim Wolf, insbesondere bei Nutztierrissen“ vor. Der Leitfaden, so ist in dem knapp 60-seitigen Papier zu lesen, will „insbesondere die Verfahrensschritte zur rechtssicheren Erteilung artenschutzrechtlicher Ausnahmen behandeln und die notwendigen Schritte zur Durchführung einer Entnahme von Wolfsindividuen darstellen“. Er besitzt lediglich empfehlenden Charakter. „Managementpläne, Verordnungen und Leitfäden der Länder zum Umgang mit dem Wolf“ sollen nicht ersetzt, „sondern nur unterstützt“ werden, die Länderzuständigkeit „bleibt unberührt“.



Ganze acht Entnahmen

Das Töten von Problemwölfen beziehungsweise schon das laute Nachdenken darüber führte und führt stets zu heftigen Debatten. Seit 2008 wurden republikweit acht Wölfe amtlich entnommen (zweimal Sachsen, fünfmal Niedersachsen, einmal Mecklenburg-Vorpommern). In etlichen Fällen kassierten Gerichte erteilte Abschussgenehmigungen. Ob mit dem Leitfaden tatsächlich mehr Problemwölfe, die es nach Berichten von Weidetierhaltern zu genüge gibt, getilgt werden können, bleibt abzuwarten.

An die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes im Jahr 2020 knüpften Weidetierhalter Hoffnungen. Denn für eine Abschussgenehmigung musste nun „kein Schaden im Sinne einer Existenzgefährdung vorliegen“, sondern „es genügt ein ‚ernster‘ wirtschaftlicher Schaden“. Zudem, so führt es der Leitfaden weiter aus, „ist der Abschuss einzelner Mitglieder eines Rudels auch möglich, wenn Schäden bei Nutztieren keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind“. Letzteres sei zwar sehr pragmatisch. Allerdings verlange dies „eine umso stringentere und auf Fakten basierende Dokumentation und Bewertung der Geschehnisse für eine rechtssichere Entscheidungsgrundlage“.

Im Leitfaden wird daran erinnert, dass ein Abschuss laut Bundesnaturschutzgesetz trotz allem nur zugelassen werden kann, „wenn zumutbare Alternativen nicht gegeben sind und sich der Erhaltungszustand der Populationen einer Art nicht verschlechtert“, was die FFH-Regelungen sowohl mit Bezug auf die grundsätzlich und flächendeckend geschützte Tierart im Allgemeinen als auch ihr Vorkommen in einem FFH-Schutzgebiet berührt. Dies wiederum sei nach der Rechtsprechung des EuGH, des Europäischen Gerichtshofes, restriktiv auszulegen. Das heißt: Die Hürden sind extrem hoch, aber nicht unüberwindbar.

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Monitoring nicht gut

Daher braucht es ein Top-Management in den Bundesländern: Angefangen beim Monitoring bis hin zu den Rissgutachten. Der Leitfaden beruft sich dabei auf ein von Wolfsfachleuten für das Bundesamt für Naturschutz erstelltes und noch aktuelles Papier (BfN-Skripten 413), das dem Monitoring in Deutschland im Jahr 2015 kein gutes Zeugnis ausstellte.

Sichergestellt werden muss, dass Risse an Weidetieren eindeutig einem Wolf zuzuordnen sind und dieser die Schutzeinrichtungen überwunden hat. „Wenn ein Wolf mehrfach (mindestens zweimal) in engem zeitlichem Abstand die zumutbaren Schutzmaßnahmen überwindet und Weidetiere reißt, kann nach derzeitigem Kenntnisstand davon ausgegangen werden, dass ein solcher Wolf gelernt hat, dass Weidetiere eine leicht erreichbare Beute sind, und immer wieder einen Weg suchen wird, Schutzmaßnahmen zu überwinden“, stellt der Leitfaden fest. Ein solches Tier könne dann auch präventiv getötet werden, um ernste wirtschaftliche Schäden abzuwenden. „Es ist ausreichend, dass ein ernster wirtschaftlicher Schaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten kann.“

Ziel müsse es immer sein, den problematischen Wolf zu individualisieren. Falls das nicht zweifelsfrei oder nicht mit vertretbarem Aufwand möglich ist, erlaubt das Bundesnaturschutzgesetz „eine Entnahme in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen“.

Praxisleitfaden Wolf: Risse in der Region

Gleichwohl sich das Bundesnaturschutzgesetz an professionelle Tierhalter wendet, können Übergriffe auf Tiere von Hobbyhaltern, sofern sie für einen zumutbaren Herdenschutz gesorgt haben, Anlass bieten, einen Abschuss zu prüfen. Denn durch eine solche Attacke „können gleichermaßen Nutztierrisse bei landwirtschaftlichen Tierhaltungen in dem betroffenen Gebiet und damit ernste landwirtschaftliche Schäden drohen“. Die Rissereignisse müssten hierbei nicht denselben Betrieb betreffen, heißt es: „Ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang ist ausreichend.“ Auch müsse die Methode der Überwindung der Schutzeinrichtungen nicht dieselbe sein.

der Teufel im Detail

Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, etwa beim Begriff des „ernsten Schadens“, der der FFH-Richtlinie entlehnt worden ist. Es gibt keine Definition, was ein ernster Schaden ist. „Aus dem Wortlaut selbst („ernst“) ergibt sich aber, dass der zu verhütende Schaden über eine bloße Bagatelle hinausgehen muss. Konkretisierend verlangt der EuGH das Vorliegen von „Schäden in einem gewissen Umfang.“ Was ein Schaden im „gewissen Umfang“ ist, bleibt unklar.

Wenn deutsche Gerichte bisher urteilten, dass Betriebe „schwer und unerträglich“ getroffen sein müssten, entspricht dies nicht den Absichten im Bundesnaturschutzgesetz. Denn dort heißt es, dass es „keiner Existenzgefährdung oder eines unerträglichen Eingriffs in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ braucht. Und so kann der Leitfaden „in Bezug auf die Ernsthaftigkeit eines eingetretenen oder drohenden Schadens“ nur empfehlen, folgende Parameter heranzuziehen: Tierverluste durch Rissereignisse, insbesondere, wenn sie zahlreich sind; Höhe des (drohenden) Schadens; wirtschaftlicher Wert der gerissenen Tiere; Umfang der landwirtschaftlichen Weidetierhaltung in dem betroffenen Gebiet/Territorium.

Praxisleitfaden Wolf: Alternativen prüfen

Ebenso schwammig bleibt der Leitfaden, wenn es darum geht, die geforderten „zumutbaren Alternativen“ zum Abschuss zu bewerten. Denn gibt es welche, sind diese zu wählen. Allerdings müssten die Alternativen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen, auch finanziell. Gibt es eine Förderung für Präventionsmaßnahmen, ist deren Inanspruchnahme für den Tierhalter zumutbar. Aktive Vergrämung etwa mit Gummigeschossen „kommt nach derzeitigen Erkenntnissen bei Nutztierübergriffen als zumutbare Alternative zur letalen Entnahme in der Regel nicht in Betracht, ist aber weiterhin Teil der Forschung zu alternativen Lösungen“.

Die Entnahme eines erwachsenen Wolfes aus der Natur und seine dauerhafte Haltung in Gefangenschaft stellt ebenfalls keine Alternative dar. „Welche Schutzmaßnahmen für große Huftiere erforderlich und zumutbar sind, bevor eine Entnahme im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung erfolgen kann, ist von der zuständigen Naturschutzbehörde im Einzelfall zu entscheiden“, heißt es im Leitfaden. Wie bei Schafen und Ziegen sei daher auch bei Rindern und Pferden zu prüfen, ob Herdenschutzmaßnahmen (u. a. stromführende Zäune und/oder Herdenschutzhunde oder Änderungen im Herdenmanagement) eine zumutbare Alternative sind.

Praxisleitfaden Wolf: Mindestschutz zu wenig

Dies gelte auch bei Weidetieren auf Binnen- und Küstendeichen oder im Bergland. In allen Fällen wird klargestellt, dass der meist von den Ländern definierte „sogenannte Mindestschutz in der Regel nicht das Niveau des zumutbaren Herdenschutzes“ beschreibt.

Ein nicht minder schwer abzuwägendes Kriterium ist der Erhaltungszustand der Population einer Art, der sich bekanntlich nicht verschlechtern darf. Hier verweist der Leitfaden auf den EuGH, der klargestellt habe, dass die Frage des Erhaltungszustandes „für das Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaats zu ermitteln ist“. Bewegt sich die Tierart über Staatsgrenzen hinweg, sind der Erhaltungszustand bzw. die Auswirkungen eines Abschusses „für die biogeografische Region zu beurteilen“.

Erstaunlich selbstbewusst heißt daher im Praxisleitfaden: „Angesichts der Populationsdynamik in Deutschland ist in der Regel davon auszugehen, dass eine Entnahme von Einzeltieren nicht zu einer Verschlechterung des Erhaltungszustands führt oder die Erreichung eines günstigen Erhaltungszustands behindert. Zu berücksichtigen sind kumulative Auswirkungen auf lokaler und überregionaler Ebene.“

Denjenigen, die die Entnahme zu vollziehen haben, räumt der Leitfaden auch reichlich Platz ein. Demnach kann ein weitgefasster Personenkreis zum Erlegen eines Problemwolfes herangezogen werden, worunter auch im betreffenden Revier regelmäßig tätige Begehungsscheininhaber zählen. Damit könne gewährleistet werden, dass im Fall einer Entnahme ortskundige Jäger zum Einsatz kommen. Nachtzieltechnik oder das Anlocken und Fangen seien genehmigungsfähige Jagdtechniken. Ein nicht unerhebliches rechtliches Risiko für Jäger bleiben jedoch Fehlabschüsse, wenn gezielt ein individueller Wolf entnommen werden soll.


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