Dieser Milchsee in den Südtiroler Alpen ist glasklar, heißt aber wirklich so. (c) Annett Gefrom

Mehrpreismodelle statt Milchsee

Molkereigenossenschaften suchen nach Lösungen aus dem Niedrigpreis. Sind Mehrpreismodelle ein Puzzleteil zur Lösung der Probleme am Milchmarkt?

Von Benjamin Meise, Geschäftsführer der Fürstenwalder Agrarprodukte GmbH (Brandenburg), www.agrafrisch.de

Auf dem Fernwanderweg der Ötztaler Alpen kommt man am Milchsee vorbei. Ob nun Kleiner oder Großer Milchsee – bei einer aussichtsreichen Bergtour in den Südtiroler Alpen beeindruckt die Landschaft.

Benjamin Meise
Benjamin Meise (c) Sabine Rübensaat

Milchseen und Butterberge sind bei Wiedereinführung von Mindestpreisen, mit denen so manch ein Landwirt im Blick auf die Milchgeldabrechnung und die seit Jahren niedrigen Milchpreise liebäugelt, keine Option, waren sich auf dem Berliner Milchforum Anfang März die Experten einig. Einige Betriebe würden bei festem Mindestpreis die Milcherzeugung weiter maximieren. Dazu meint Peter Stahl, Präsident des Milchindustrie-Verbandes schon zur Pressekonferenz zum Milchpolitischen Frühschoppen im Januar dieses Jahres: „Die Teilnehmer blenden aus, dass wir zu viel Milch auf dem Markt haben.“

Preisdifferenzierung für Mengensteuerung

Marktinstrumente wie Risikomanagement und die Absicherung von Preisen finden erst seit Kurzem den Weg in die Milchbranche. In der Sektorstrategie 2030 heißt es: „Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind dauerhaft eingeführte Preisdifferenzierungsmodelle zur Mengensteuerung in Molkereien […] geeignet.“

Es gibt große Berührungsängste unter den Landwirten bezüglich einer Preisdifferenzierung (Mehrpreismodell), wobei der erste gelieferte Liter besser bezahlt wird als der letzte. Die Idee zu einer Preisdifferenzierung (Zweipreismodell, A/B-Preis, Mehrpreismodell) ist aus der Kritik an dem seit Jahrzehnten üblichen „Einpreismodell“ entstanden. Es ist quasi eine Weiterentwicklung des Einpreismodells und bietet damit eine moderne Form der Milchgeldabrechnung.

„Die Milchmenge ist wohl ein entscheidender Faktor bei der Suche nach einer nachhaltigen Lösung der Krise. […] Sinnvoller dürfte es sein, über Anreize dafür zu sorgen, dass Erzeuger ihre Produktionsmenge freiwillig senken.“ Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes (Juli 2016)

Kritikpunkte am Einpreismodell

Der Preis eines Produktes hat in einer Marktwirtschaft unter anderem auch eine Informationsfunktion. Er gibt den Akteuren Auskunft darüber, wie die Versorgungslage eines Marktes ist. Fällt der Preis, ist das ein Indikator für eine Überversorgung. Steigt der Preis, wird eine Verknappung angezeigt.

Der Produzent reagiert auf die Preise, indem er mehr oder weniger produziert. Der Kunde reagiert, indem er mehr oder weniger kauft. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Opec, die Organisation Erdöl exportierender Länder und der Rohölmarkt. Das funktioniert auch bei allen Milchprodukten. Ständig ändern sich die Preise und Absätze von Butter, Käse, Pulver und weiteren Milchprodukten. Hierüber informieren nur externe Quellen. Es wird aber nicht beim Blick auf die Milchgeldabrechnung deutlich.

Die meisten Molkereien bilden in der Regel aus allen Verwertungen einen Durchschnittspreis, den sie dann an die Milchlieferanten auszahlen. Jeder gelieferte Liter wird zum selben Preis abgerechnet. In Phasen hoher und stabiler Milchpreise ist das auch ausreichend.

Übersicht

Leider haben die Preisschwankungen seit 2006 massiv zugenommen. Und es ist auch nicht absehbar, dass sie sich wieder beruhigen werden. Das Problem bei einer Durchschnittspreisbildung ist, dass sie Marktsignale für die Milchbauern verschleiert. Ohne dass es die Erzeuger merken, wird leider viel zu oft Milch produzieren, die zum Teil verramscht werden muss, weil es schlicht zu viel gibt. Beispielsweise wurden in einer großen deutschen Molkerei aktuell 13 Prozent der Rohmilch über Trinkmilch und Mozzarella für gerade einmal 26 Cent verwertet. Eine kostendeckende Produktion von Rohmilch ist zu diesem Preis nicht möglich.

Durch diese Preisverschleierung übersehen Milcherzeuger die allerersten Warnsignale, die auf eine drohende Überversorgung des gesamten Milchmarktes hinweisen. Die nun sehr wichtige rechtzeitige Angebotsreaktion der Produzenten bleibt aus.

Neben der verschleierten Marktinformation ist das größte Problem eines Einpreismodelles die falsche Anreizwirkung. In der Theorie sollte der Produzent bei fallenden Preisen etwas weniger produzieren, um durch eine Verknappung des Angebots den Preisverfall aufzufangen. In der Praxis beobachten wir, dass Milchbauern eigentlich ständig maximal produzieren. Schlimmer noch: Sie versuchen bei fallenden Milchpreisen den betrieblichen Liquiditätsrückgang durch eine höhere Milchleistung zu kompensieren. Leider heizen sie so den Preisverfall erst richtig an.

Erst viel zu spät, wenn der Milchpreis unter circa 25 Cent gefallen ist, reagieren die Betriebe mit Abstockung und Betriebsschließungen. Beim Einpreismodell wird also entweder ganz oder gar nicht gemolken. Es lohnt sich einzelbetrieblich einfach nicht, zwischendurch auch mal etwas weniger zu melken.

„Es bedarf einer besseren Abstimmung der Absatzlage und Rohstoffbeschaffung […]. Diese strategische Milchmengensteuerung kann nur gemeinsam mit einer Änderung der Lieferverträge […] funktionieren.“ Christian Schmidt, Bundeslandwirtschaftsminister (August 2016)

Vorteile von Mehrpreismodellen

Je nach Ausgestaltung des Mehrpreismodelles kann der Vorteil gegenüber „Es bedarf einer besseren Abstimmung der Absatzlage und Rohstoffbeschaffung […]. Diese strategische Milchmengensteuerung kann nur gemeinsam mit einer Änderung der Lieferverträge […] funktionieren.“ CHRISTIAN SCHMIDT, Bundeslandwirtschaftsminister (August 2016) einem Einpreismodell darin liegen, dass es sich einzelbetrieblich lohnt, etwas weniger zu melken. Würde man beispielsweise in unserer großen deutschen Beispielmolkerei nicht 100 Prozent der angelieferten Milch wie aktuell mit 32 Cent vergüten, sondern entsprechend der tatsächlich schlechtesten Verwertung 13 Prozent der Menge mit 26 Cent, so blieben für die verbliebenen 87 Prozent der Milch schon 33 Cent zur Auszahlung übrig. Es würde so eine Preisdifferenzierung entstehen mit einem A-Preis von 33 Cent für die ersten 87 Prozent und einem B-Preis von 26 Cent für die letzten 13 Prozent der jeweils angelieferten Milch eines Betriebes.

Jedem Milchproduzent würde sofort klar, dass er einen Teil seiner Milch nicht mehr kostendeckend produzieren kann. Er müsste sich nun die Frage stellen, ob es sich für ihn lohnt, die B-Milch weiterhin zu produzieren.

Abbildung

Es wird Wachstumsbetriebe geben, die zur Bedienung ihres Kapitaldienstes zu 100 Prozent melken müssen. Diese bekommen weiterhin analog zum Einpreismodell 32 Cent für jeden gemolkenen Liter. Sie haben durch ein Mehrpreismodell keine Schlechterstellung gegenüber der traditionellen Abrechnung durch ein Einpreismodell.

Es wird aber auch Betriebe geben, die sich für eine Anpassung ihrer Produktion entscheiden und im besten Fall sogar bis zu 13 Prozent ihrer Menge reduzieren. Diese Betriebe werden bei Abrechnung über ein Mehrpreismodell mit einem durchschnittlich höheren Auszahlungspreis belohnt. Gleichzeitig entlastet jeder bewusst reduzierte Liter Milch den Gesamtmarkt für alle Milchproduzenten. Die strikte Abrechnung nach einem Einpreismodell verhindert, dass flexible Betriebe ihre Produktionsmengen optimieren. Damit verlieren beide Betriebstypen. Die „Flexbetriebe“, weil sie gezwungen werden, wider besseres Wissen maximal zu melken, und die „Maxbetriebe“, weil sie nicht von der Marktentlastung ihrer Berufskollegen profitieren können.

„Verschiedene Preismodelle wie […] eine verwertungsbezogene Preisstaffel sind zu diskutieren, in den Unternehmen individuell zu entscheiden und umzusetzen.“ Karsten Schmal, Milchpräsident DBV (Oktober 2016)

Nachteile von Mehrpreismodellen

Wie immer auf dieser Welt, so gibt es auch bei Mehrpreismodellen eine Kehrseite der Medaille. Diese zu erkennen, ist wichtig, um die Vorzüge voll auszukosten und die Nachteile zu begrenzen.

Sicher ist eine Milchgeldabrechnung nach einem Mehrpreismodell etwas komplexer als bisher. Aber es adressiert auch die für viele unrentable Milchpreisentwicklung. Es stellt sich zum Beispiel sofort die Frage, woraus sich denn die theoretische Produktionskapazität eines Betriebes bemisst. Diese Frage kann nur ganz individuell zum Beispiel mit der Anzahl der Stallplätze multipliziert und mit der durchschnittlichen Pro-Kopf-Leistung im Vorjahresmonat berechnet werden.

Sicherlich stellen auch zusätzlich schwankende Anlieferungsmenge und temporär weniger gut ausgelastete Molkereianlagen eine gewisse Herausforderung dar. Schlecht durchdachte Modelle regen vielleicht sogar zur Manipulation an. Aber diese Themen sind lange nicht so schwierig wie das Überleben bei 20 Cent.

Letztlich dürfte der Markteinfluss der durch erste Mehrpreismodelle flexibilisierten Milchmengen eher marginal sein. Es ist nicht abzustreiten, dass es sich hierbei zunächst um eine „Archipel-Lösung“ handelt. Aber der Einfluss wirkt ab dem ersten überdachten Liter sowohl einzelbetrieblich als auch auf dem Gesamtmarkt. Je flexibler die Betriebe und Molkereien werden, umso mehr können die Kräfte des Marktes wieder für und nicht – wie derzeit – gegen die Erzeuger arbeiten.

Milchauto
Der Milchtank ist die „Bank“ der Milchviehhalter. (c) Fritz Fleege

Praxisbeispiele

Mehrpreismodelle werden beispielsweise bereits erfolgreich bei FrieslandCampina oder der Molkerei Söbbeke GmbH eingesetzt. Auch in der Schweiz gibt es seit 2011 ein ABC-Preissystem, wobei die Schweiz eher ein Beispiel dafür ist, dass ein schlecht konzipiertes Mehrpreissystem nicht den gewünschten Erfolg liefert.

Um es mit den Worten von Albert Einstein zu sagen: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und trotzdem zu hoffen, dass sich etwas ändert.“

FAZIT

Mehrpreismodelle haben das Potenzial, wieder für dauerhaft nachhaltige Preise bei den Milchbauern zu sorgen. Sie sind eine vollkommen marktwirtschaftliche Lösung ohne staatliche Einmischung, ohne Quotenkosten und bieten jedem Betrieb die Entscheidungsfreiheit über seinen Produktionsoutput. Mehrpreismodelle können flexibel und passend zu jeder Molkerei entwickelt werden. Wenn man sie erst verstanden hat, sind sie nicht kompliziert. Wichtig ist, dass sie vorab gut durchdacht sind, bevor sie in die Praxis eingeführt werden. Das Risiko, sie zu nutzen, ist deutlich geringer als die vertane Chance, sie nicht zu testen.


Unser Autor beantwortet gerne Ihre Fragen zum Thema Mehrpreismodelle. Sie erreichen ihn unter: sekretariat@agrafrisch.de