Wie lässt sich die Lebensumwelt gestalten, damit der Stress für das Kalb in der mutterlosen Aufzucht minimiert und der Aufwand optimiert wird? (c) Annett Gefrom

Kälberaufzucht: Ohne Mutter geht es nicht?

Ob sich die mutterlose Kälberaufzucht mit der Forderung nach Tiergerechtheit vereinbaren lässt, wurde in Neubrandenburg untersucht.

Von Prof. Dr. Sc. Agr. Anke Schuldt und Dr. Agr. Regina Dinse, Hochschule Neubrandenburg

Wohlbefinden ist synonym zu dem Begriff „Tierwohl“ zu verstehen, der als rechtliche Vorgabe vom „Tierschutz“ abzugrenzen ist. Denn es geht um mehr als nur die Abwesenheit von Schmerzen, Leiden und Schäden, die jeder Tierhalter laut Tierschutzgesetz für seine Tiere zu garantieren hat. Nach Aussage des Tierarztes und Verhaltensforschers Hans Hinrich Sambraus ist die Tierhaltung nur dann verhaltensgerecht, wenn ein Tier alle essenziellen Verhaltensbedürfnisse äußern kann.

Demnach können sich Kälber in der mutterlosen Kälberaufzucht nicht vollständig „wohl befinden“, denn die Mutter-Kind-Beziehung kann von ihnen nicht ausgelebt werden. Allerdings trifft das auch für die Ammenkuhhaltung und die muttergebundene Aufzucht zu, in der die Kälber nur zum Saugen zur Mutter gelassen werden. Wirklich artgerecht wäre somit nur die Mutterkuhhaltung auf der Weide.

Stress für Kälber

Den Stress der fehlenden sozialen Kontakte zur Mutter kann die heutige Milchviehhaltung den Jungtieren ebenso wenig ersparen, wie den Stress beim Absetzen. Wie lässt sich die Lebensumwelt gestalten, damit dieser für das Kalb minimiert und der Aufwand optimiert wird? Sambraus bezeichnete Verhaltensstörungen (Ethopathien) und Verletzungen durch Haltungseinrichtungen (Technopathien) als Indikatoren für ein nicht angemesses Haltungssystem.

Aber auch wenn keine sichtbaren Erkrankungen auftreten, ist eine Kälberhaltung nicht automatisch tiergerecht. Ob sich mutterlos aufgezogene Kälber wohlfühlen, muss anhand weiterer, sensiblerer Indikatoren überprüft werden, damit Verletzungen und Störungen gar nicht erst entstehen. Im englischen Sprachraum sind die „Fünf Freiheiten“ der Welttierschutzgesellschaft verbreitet, womit Freiheit von Hunger, Durst und Fehlernährung, von Unbehagen, Schmerz, Verletzung und Krankheit, von Angst und Leiden sowie Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens gemeint ist (FAWC, 1993; WTG E.V., 1993).

In deren Ergänzung veröffentlichte das europäische Projekt Welfare Quality (WQ) im Jahr 2010 Grundsätze mit zwölf Kriterien, die ein zuverlässiges Beurteilungssystem in Bezug auf den Tierschutz beinhalten und entsprechende Informationen zu den erzeugten Produkten ermöglichen. Die Beurteilung einer Haltungseinrichtung nach diesen Kriterien erfordert detaillierte Kenntnisse, was zeitaufwendig und damit in der landwirtschaftlichen Praxis schwer anwendbar ist. Das Gleiche gilt für den „Nationalen Bewertungsrahmen Tierhaltungsverfahren“, der auf der Webseite des Kuratoriums für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft (KTBL) steht und mit dem über 100 Haltungsverfahren hinsichtlich der Umweltwirkung und der Tiergerechtheit geprüft werden können.

Eine einfachere Methode, mit deren Hilfe vom Verhalten auf das Wohlbefinden geschlossen werden kann, erarbeitete das Autorenkollektiv um Sine N. Andreasen in dänischen Milchviehbetrieben. Die Methode ist ein „Ganztier“-Ansatz, bei dem das Ausdrucksverhalten der Tiere beobachtet und mit Eigenschaften beschrieben wird, wie „ruhig“, „entspannt“, „lebhaft“ und „zufrieden“ als positiv besetzte Beschreibungen oder „gestresst“, „ängstlich“ und „reizbar“ als negativ besetzte.

Abbildung 1

Tränkeplan für kälber

Um einen Tränkeplan für die mutterlose Kälberaufzucht zu erarbeiten, der dem Anspruch an das Ausleben des natürlichen Verhaltens der Kälber weitestgehend gerecht wird, führten die Autorinnen Verhaltensuntersuchungen bei verschiedenen Tränkeanrechten durch. Die Kälber wurden täglich mit 8 und 10 l Milchaustauscher (MAT) bis zum 28. Lebenstag sowie 12 l MAT bis zum 49. Lebenstag getränkt. Mit Überwachungskameras wurde das Verhalten vom Tag der Einstallung in die Gruppenhaltung bis zur Ausstallung aufgezeichnet und mit dem Programm Interact der Firma Mangold statistisch ausgewertet. Die Frage, ob das Verhalten normal, also artspezifisch und damit tiergerecht ist und sich die Kälber wohlfühlen, wurde über den Vergleich mit der Beschreibung des Verhaltens in der Mutterkuhhaltung bzw. primitiver Rinderrassen oder ihrer Wildformen in der Literatur beantwortet. Als Kriterien des Normalverhaltens wurden Ruhe-, Aktivitäts- und Futteraufnahmeverhalten ausgewertet.

Kälber unterliegen einem stabilen Tagesrhythmus, was sich in der ähnlichen Verteilung der Ruhe- und Aktivitätszeiten bei verschiedenen Tränkeanrechten zeigt (Abb. 1).

Abbildung 2

entspannt durch den tag

Ab Mitternacht wird lange und durchgehend geruht, morgens beginnt zwischen 4 und 6 Uhr eine Phase intensiver Aktivitäten und zur Mittagszeit wird geruht. Allerdings sind die einzelnen Ruheperioden am Tage deutlich kürzer. In den Abendstunden sind die Kälber wieder aktiv. Da dieser Tagesrhythmus auch ähnlich in der Mutterkuhhaltung beschrieben wird, kann wohl davon ausgegangen werden, dass er genetisch fixiert ist und somit keine Anhaltspunkte für das Wohlbefinden bietet.

Etwas anders zeigt sich das Bild bei Betrachtung der täglichen Ruhestunden bei unterschiedlichem Tränkeangebot über den Verlauf der Tränkeperiode (Abb. 2). Bei dem höchsten Tränkeanrecht von 12 l MAT pro Tier und Tag bis zum 49. Lebenstag ruhen die Kälber bis zur zehnten Lebenswoche durchgehend 15–16 Stunden am Tag, so wie es auch für Kälber in der Mutterkuhhaltung beobachtet wird. Lange Ruhezeiten haben sich bereits als haltungsrelevante Indikatoren bewährt, da sie gut messbar sind. Bei einem Beginn des Abtränkens ab dem 29. Lebenstag gehen die täglichen Ruhezeiten auf etwa 11–12 Stunden zum Ende der Tränkeperiode zurück.

schlafen, fressen, toben

Zum normalen Verhalten gehören die Tränke- und Beifutteraufnahme, die in Abbildung 3 gezeigt werden. Lange Saugperioden sind somit ein Hinweis auf ein artgerechtes Tränkeangebot. Kälber saugen 8–10 Minuten an der Mutter, über 24 Stunden wurden Säugezeiten von 60–70 Minuten über 4–5 Saugperioden beobachtet. Diese langen Saugzeiten können nur über ein hohes Angebot und hohe Saugwiderstände erreicht werden, was auch bei den 12-l-Kälbern nicht ausreichend der Fall war. Bei späterem Beginn des Abtränkens mit 12-l-Anrecht bis zum 49. Tag wurden in der 9. Woche 26,9 und ein Woche später 17,6 Minuten im Tagesmittel notiert. Die Dauer der Tränkeaufnahme ging bei den 8-l-Kälbern deutlich früher zurück. In der 10. Lebenswoche sind es nur noch 4,8 Minuten am Tag.

Trotz Unterschieden im Tränkeangebot und damit in der Tränkeaufnahme beginnen alle Kälber erst ab der 8. Lebenswoche über längere Zeit Beifutter aufzunehmen, was durch andere Autoren bestätigt wird. In den meisten aktuellen Tränkeplänen wird deutlich früher mit dem Abtränken begonnen und somit werden die Tiere teilweise über einen längeren Zeitraum nicht ausreichend versorgt. Auch dieses Verhalten zeigt sich unabhängig vom Tränkeplan und ist kein Hinweis auf das Wohlbefinden der Kälber.

stress beim entwöhnen

Zum normalen Verhalten von Jungtieren gehören Spiel, soziale Kontakte, Erkundung und viel Bewegung. Gesunde, vitale Kälber sollten sich täglich zu 80 Prozent und mehr mit Spielen und Herumtollen beschäftigen, die sonstigen Aktivitäten sind Indikatoren für das Wohlbefinden. Deshalb wurden die sonstigen Aktivitäten betrachtet (Abb. 4). Es zeigt sich deutlich, dass deren Anteil mit zunehmendem Alter zurückgeht. Bei den 12-l-Kälbern verläuft die Trendlinie durchgehend auf dem höchsten Niveau. Die Trendlinie der 8-l-Kälber fällt am steilsten ab.

Als Abweichungen vom Normalverhalten wurden Blindbesuche an der Tränkestation und das gegenseitige Besaugen betrachtet (Abb. 5). Beides stellt in der Mutterkuhhaltung kein Problem dar. Kälber werden von fremden und bei Entwöhnung von den eigenen Müttern abgewehrt. Bei diesen „Besuchen ohne Anrecht“ lernt das Kalb durch die Abwehr schnell zu verzichten, während die Blindbesuche an der Tränkestation immer wieder aufeinander folgen, was zunehmend Stress erzeugt. Das gegenseitige Besaugen wird bei zu niedrigen Tränkeanrechten – zu kleinen und zu wenigen Mahlzeiten – deutlich häufiger beobachtet. Wehrt sich der Gruppenpartner nicht gegen das Besaugen, manifestiert sich das Verhalten. Reduzieren kann man dieses Verhalten nur mit hohen Tränkeanrechten über einen ausreichend langen Zeitraum, das heißt mindestens 12 l Tränkeanrecht bis zum 49. Lebenstag. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass dies für die Rasse Deutsche Holsteins gilt. Kälber mit Genanteilen der Rassen Fleckvieh, Braunvieh und Jersey neigen verstärkt zum Besaugen.

Es muss also nicht wie im Film aus dem Jahr 1958 heißen: „Ohne Mutter geht es nicht“, aber die Beobachtung des Verhaltens der Kälber gibt Hinweise zu deren Wohlbefinden.

FAZIT mutterlose kälberaufzucht

Indikatoren für eine artgerechte Gruppenhaltung von Kälbern in der mutterlosen Aufzucht sind bis zum Absetzen:


  • Ruhezeiten von insgesamt 15–16 Stunden am Tag, einzelne Ruheperioden der gesamten Gruppe am Tage (45–90 Minuten) und in der Nacht (2–4 Stunden),
  • lange Mahlzeiten über 5–10 Minuten an der Tränkestation, Bis zum 49. Lebenstag:
  • mehr als 80 Prozent der aktiven Zeit wird mit Spiel, sozialen Kontakten und Bewegung verbracht,
  • nur wenige Blindbesuche an der Tränkestation, mittlere Anzahl n < 1,
  • nur einzelne Kälber einer Gruppe besaugen und/oder dulden das Besaugen.