Dr. Kenneth Anders, 1969 in Naumburg geboren, studierte Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie, schreibt über Landleben und -wirtschaft und leitet das Oderbruchmuseum. © Torsten Stapel

Druck auf die Landwirte ist gewaltig: Kenneth Anders im Interview

Seit mehr als drei Jahrzehnten hat Dr. Kenneth Anders die Landwirtschaft aus kulturwissenschaftlich-philosophischer Perspektive im Blick und sagt: Am Agrardiskurs muss sich Grundlegendes ändern.

Das Gespräch führte Heike Mildner

Anlass für unser Gespräch ist ein Aufsatz mit dem Titel Sprachverwirrung. Der Diskurs über die moderne Landwirtschaft fördert das Missverstehen, den Kenneth Anders auf Oderamazonas.de – ein Dschungelblog über Stadt, Land und die Verunsicherungen in der Sprache veröffentlicht hat. Hinter dem letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Bauern auf die Straße getrieben hat, stecke eine jahrelange Erfahrung bürokratischer Gängelung, schreibt Anders.

„Vor allem aber sehen sich die Bauern gezwungen, auf die Straße zu gehen, weil sie bereits seit Jahrzehnten einem aktiven gesellschaftlichen Unverstand ausgesetzt sind, der durch irreführende Begriffe und Sprachregelungen zustande kommt. Die meisten Aussagen, die im öffentlichen Diskurs über die moderne Landwirtschaft getroffen werden, sind verzerrend und schüren das Missverstehen.“ Ein Satz, den ein Landwirt vielleicht anders formuliert hätte, aber mit Sicherheit unterschreiben kann.

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Dr. Kenneth Anders über Idylle und Realität

Ein Kommunikationswissenschaftler braucht für diesen Satz Einsicht und Verständnis für die Landwirtschaft. Woher kam und kommt Ihr Interesse?
Anfang der 1990er-Jahre bin ich ins Oderbruch gezogen, und zwar auf einen Bauernhof, der mitten auf dem Acker stand. Ich hatte keine Ahnung, in welchen Auseinandersetzungen die Landwirtschaft damals stand und was die moderne Technologie der Landwirtschaft ausmacht. In den ersten Jahren war das Verhältnis zur Landwirtschaft durchaus ein spannungsvolles.

Ringsherum wird gespritzt, man hat kleine Kinder, ist beunruhigt. Oder man schreckt aus dem Bett hoch, weil es auf einmal taghell und laut ist, weil gerade die Zuckerrüben abgefahren werden. So etwas stimmt mit den eher idyllisch geprägten Vorstellungen vom Landleben nicht überein. Aber natürlich gibt es auch die schönen Momente: Sonnenuntergänge über dem Feld, tolle Wetterereignisse, die Ernte, die Strohrollen hinterher … Siegfried Kunze und die späteren Betriebsleiter Vera Wesner und Olaf Stöhr waren immer bereit, mit mir in den Austausch zu treten. Und tatsächlich war das einer der ersten Impulse, mit dem Oderbruchpavillon und der Landschaftskommunikation anzufangen.

Oderbruchpavillon – Texte zu Interviews mit Landwirten

Im Oderbruchpavillon (im Archiv auf oderbruchmuseum.de) sind Texte zu Interviews mit diesen drei – und vielen anderen Landwirten – nachzulesen, die das Verständnis für die Zusammenhänge in der Landwirtschaft nachvollziehbar machen. Und Landschaftskommunikation (landschaftskommunikation.de) heißt, sich über den gemeinsam bewohnten und genutzen Raum zu verständigen. In dieser Verständigung haben Sie Verständnis entwickelt?
Genau. Zum Beispiel ging es bei einem PleinAir mit Künstlern und Landschaftsplanern um das Thema Grund und Boden, also um Fragen der Bodenverteilung nach der Wende. Später haben mich Bodenfruchtbarkeit, Konkurrenzsteuerung und Fragen des Wasserhaushaltes, also im engeren Sinne fachliche Fragen beschäftigt. Und nach und nach habe ich die Zusammenhänge besser verstanden. Mit Betriebsleiter Bernd Hoffmann in Altreetz habe ich oft gesprochen. Später wurde er Vorstandsvorsitzender des Museumsvereins, und Vera Wesner hat ihn später abgelöst. Die Landwirte in meinem engeren Umfeld haben meine Kulturarbeit also auch direkt unterstützt und auch auf der kommunalpolitischen Ebene viel dafür getan, dass diese Arbeit anerkannt und finanziert wird.

Eine Annäherung von beiden Seiten also.
Auf jeden Fall. Es war ein Empfinden da, dass der jeweils andere es ehrlich meint, und auf dieser Basis hat sich sehr viel entwickelt.

Landwirtschaft im Oderbruchmuseum

Bis hin zum Jahresthema Landwirtschaft im Oderbruchmuseum vor sechs Jahren.
Das war sicherlich eines unserer wertvollsten Jahresthemen. Ich habe damals mit vielen Agrarwissenschaftlern gesprochen, und die haben gestaunt, was man auf der Basis von 30 Gesprächen mit Landwirten alles an Erkenntnissen generieren kann.

Landwirten zuzuhören, könnte nicht nur für Wissenschaftler hilfreich sein. Sie haben die Entwicklungen verfolgt: Was hat sich getan seit 2018?
Die Dynamik, der Veränderung – also Transformationsdruck, der auf den Betrieben lastet, ist so gewaltig, dass man jetzt, sechs Jahre später, eigentlich schon wieder ein Jahresthema Landwirtschaft setzen müsste. Wir haben im vergangenen Jahr eine Gastausstellung zum Thema Kulturerbe Oderbruch in Brüssel gemacht und dort viele Fotos gezeigt, die 2018 entstanden waren. Deutlich wurde: Die einen haben ihre Milchkühe inzwischen aufgegeben, andere Betriebe haben inzwischen einen anderen Eigentümer. Die Veränderungen allein in den Betrieben, die wir damals porträtiert haben, sind gewaltig.

Belastender Transformationsdruck

In der Öffentlichkeit, in den Medien spielt das aber kaum eine Rolle …
In der Gesellschaft gibt es gar kein Bewusstsein dafür, wie hoch der Transformationsdruck ist, der auf den Betrieben lastet. Gemessen an dem, was sich im Berufsleben vieler anderer Menschen verändert, geht es in der Landwirtschaft viel gravierender und schneller.

Ein Beispiel: Im Buch zum Jahresthema Landwirtschaft beschreibt Andreas Schmidt-Frielinghaus, wie sie im Betrieb bestimmte Feldfrüchte erprobt und wieder verworfen haben. Obwohl es sehr sachlich geschrieben ist, wird ein immenser Druck beim Lesen spürbar! Was macht das mit Leuten, die eine Familie haben, die zum Beispiel Milchvieh halten und jeden Tag zugucken, wie sie Verluste schreiben. Sie müssen das verantworten, es auch nervlich aushalten. Die Medien haben keinen Zugang zu diesen emotionalen Aspekten des Berufs.

Bauerncasino – Kann man Landwirtschaft spielen?

Es gibt ja auch kaum einen Beruf, der so viele Variablen beim Produzieren berücksichtigen muss. Ich denke an das „Bauerncasino“ im Museum. Wie sind Sie darauf gekommen?
Wir haben eine Sommerschule mit Schülern und Studenten aus Eberswalde zum Thema „Kann man Landschaft spielen?“ gemacht. Da ist das Bauerncasino entstanden. Es besteht aus drei Würfeln: Der erste würfelt das Wetter, der zweite den Markt, und der dritte würfelt die Politik. Wenn der Wurf gut ist, kann das für enorme Einnahmen sorgen. Bei drei Fehlwürfen hintereinander ist der Betrieb dann aber eben pleite. Die Flexibilität, die nötig ist, um seinen Betrieb dort hindurchzunavigieren, ist enorm.

Davon machen sich die meisten keinen Begriff. Verglichen mit anderen Wirtschaftsstrukturen, stehen Landwirte wirklich noch mit einem Bein im 18. Jahrhundert und mit dem anderen im 21. Jahrhundert mit einer modernen Technik und einer gigantischen Regulierung. Das erzeugt Spannung. Und der Druck nimmt zu, weil es Kräfte in den Industriestrukturen gibt, die dort noch eine Möglichkeit sehen, sich Kapital anzueignen, das ­immer noch über weite Strecken in den Händen von Selbstständigen ist.

Vorsichtig vor dem Begriff „industrielle Landwirtschaft“

Teils sind das sehr große Betriebe. Den Begriff industrielle Landwirtschaft finden Sie aber nicht angebracht. Warum?
Industrie ist die standardisierte Verarbeitung von Rohstoffen zu Produkten, Landwirtschaft ist die Herstellung solcher Rohstoffe, vor allem durch die Bearbeitung des Bodens. Der Boden aber ist eine Ressource, die immer individuell wie ein Fingerabdruck ist und tägliche Zuwendung braucht. Die landwirtschaftliche Bindung an den Boden ist eben gerade nicht industriell. Zwar nutzen die Landwirte industrielle Maschinen für ihre Arbeit, aber das tut heute jeder Mensch.

Ausschlaggebend für den industriellen Charakter einer Arbeit ist nicht das Werkzeug, sondern die Herrschaft über den Prozess. Wo der Mensch selbst entscheidet, was wann wo und mit welchen Mitteln zu erfolgen hat, und diese Hoheit nicht an ein technologisches Prinzip abtritt, ist es Handwerk. Und wo er täglich existenziell an ein und dasselbe Gut gebunden ist und es erhalten und verbessern muss, wie es beim Boden der Fall ist, da ist es Landwirtschaft.

Der landwirtschaftliche Betrieb bildet ein komplexes System aus Mensch, Boden, Tier und Technik. Diese kleinen Systeme drohen zerstört zu werden, und dahinter liegen allzu oft Kapitalinteressen, die sich an den Eigentumsverschiebungen und der wachsenden Zahl an Filialbetrieben in der ganzen Welt allzu deutlich zeigen.

Die Rede von der industriellen Landwirtschaft, die angesichts moderner Traktoren und Ställe leichtfertig im Munde geführt wird, verschleiert die Gefahr, dass Bauern ihre Betriebe aufgeben und sich stattdessen tatsächlich industrielle Akteure des Landes bemächtigen. Sie macht aus den Opfern der industriellen Bodenagglomeration vermeintliche Täter.

Kenneth Anders über die Bauernproteste und Erfahrungswissen

Welchen Eindruck haben Sie von der Resonanz der Bauernproteste in der Öffentlichkeit?
Trotz des jahrelangen verzerrenden Sprachgebrauchs im Landwirtschaftsdiskurs empfinde ich die öffentliche Resonanz auf die Bauernproteste als überwiegend positiv. Offenbar gibt es ein Bewusstsein dafür, dass die Bauern Sympathie und Solidarität verdienen. Das ist ermutigend.

Wie könnte das aufgefrischte Verhältnis zwischen Gesellschaft und Landwirten weiter- entwickelt werden?
Eines der gravierendsten Probleme unserer Gesellschaft heute ist, dass sie das Erfahrungswissen der Menschen systematisch ausgrenzt. Das ist ein Dilemma. Denn das Erfahrungswissen der Menschen ist die wichtigste Quelle für Lernprozesse und Entwicklungen. Die Wissenschaft kann sich einbringen, bestimmte Empirie verfeinern oder forcieren. Aber die enorme Bedeutung, die heute Modellrechnungen zukommt, die gar nicht mehr rückgekoppelt werden mit dem, was täglich auf dem Acker und sonst auch für Erfahrungen gemacht werden, das halte ich wirklich für ein ganz gravierendes Problem.

Die Wissensproduktion findet vor allem im Spannungsfeld von Medien und Politik statt, weniger im Spannungsfeld von Praxis und Denken. Die meisten Landwirte sehen das ganz klar. Deswegen ist die landwirtschaftliche Grunderfahrung die einer Fremdbestimmung.

Und dann ist das Fass am Überlaufen, man wehrt sich, geht auf die Straße. Wie haben Sie die Debatte um die „rechte Ecke“ wahrgenommen?
Da ist eine Form der Delegitimation sichtbar geworden: Man hat den Landwirten politisch unlautere Motive unterstellt. Und man kann ihnen nur wünschen, dass sie sich davon nicht irre machen lassen. Ich bin selber im Januar zu einem dieser großen Protesttage hingefahren, wollte mir einen Eindruck verschaffen. Und ich muss sagen, dass mich das Auftreten der Landwirte alles in allem beeindruckt hat. Das war unbeirrt, das war in der Sache klar. Und es war natürlich politischer Protest, der auch hier und da mal frech war. Aber er war eben nicht politisch geframt. Es ist Wesenskern der Demokratie, dass diese politischen Auseinandersetzungen geführt werden.

Kenneth Anders: Wie kann der Selbsterhalt der Betriebe gewährleistet werden?

Wie kommen wir aus dem grundsätzlichen Dilemma, das Sie beschrieben haben, wieder raus?
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz wird es zunehmend möglich, das, was auf den Äckern passiert, permanent zu überwachen und auszuwerten. Eine Form der Steuerung, die dem Produzenten die Luft zum Atmen nimmt. Ich glaube, wir haben noch gar nicht verstanden, wie grundsätzlich dieses Thema ist. Dass man eigentlich ein anderes Paradigma braucht, eine andere Grundvorstellung davon, wie Landwirtschaft in dieser Gesellschaft funktionieren und ermöglicht werden soll.

Die grundlegenden Überlegungen müssten in die Richtung führen: Wie kann der Selbsterhalt der Betriebe gewährleistet werden? Wenn der beschreibende Anteil dessen, was heute landwirtschaftliche Wirklichkeit ist, nicht massiv erhöht wird, kann die Politik, die dann gemacht wird, immer nur noch schlechter werden. Ich weiß nicht, wie wir eine vernünftige Agrargesetzgebung hinbekommen. Aber vielleicht wäre es schon mal ein Anfang, einen Schritt zurückzutreten und mal Luft an die gesetzliche Lenkungs- und Kontrollmechanismen zu lassen.

Luft lassen, statt Kontrolle

Das wäre das Gegenteil von dem, wohin die Reise mit Foto-App etc. derzeit hingeht …
Das politische Paradigma ist immer noch die totale Kontrolle, gerade im Bereich der Landwirtschaft. Aber Komplexität kann ich nicht kontrollieren! Komplexität heißt: Ich muss als Betriebsleiter sowohl den Boden im Blick haben, das Wetter, die Marktpreise, die Fruchtfolgen, den Schädlingshorizont, die Maschinen, meine Angestellten. Man darf nicht vergessen, dass der landwirtschaftliche Betrieb ja eigentlich eine Art Organismus ist, und ich kann da nicht einfach aus politischem Kalkül irgendetwas herausbrechen oder austauschen.

Wenn ich versuche, die Komplexität zu kontrollieren, mache ich etwas paradigmatisch genau Gegensätzliches von dem, was der Betriebsleiter macht: Der trifft die ganze Zeit Abwägungsentscheidungen. Eines bedingt das andere. Und diese Bedingtheiten erfordern eine unglaubliche Wachsamkeit und eine Integration von sehr asymmetrischen Wissensbeständen.

Das heißt, ich muss sowohl in den Rechner gucken und Bilanzen machen und trotzdem muss ich draußen auf dem Acker die Krume mal in die Hand nehmen. Diese Komplexität kann man nicht in der Weise kontrollieren, wie die Politik sich das einbildet. Und das müsste grundsätzlich ausgefochten werden.

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