Mit Oldtimern auf Werbetour

Thüringer Klöße: Heimat am laufenden Band

Es gibt Dinge, die bleiben – auch wenn Weihnachten 2020 anders sein wird als sonst. Dazu gehören für sehr viele die Thüringer Klöße. Hergestellt werden sie in Heichelheim, wo wir uns in der Kloßwelt auf Spurensuche begeben haben.

Von Birgitt Schunk (Text und Fotos)

Nicht alle Stühle an der großen Tafel werden zum Fest besetzt sein, die Zeiten mit Corona fordern uns einiges ab. Vertrautes tut da gut. Und so werden in vielen Thüringer Familien zu Weihnachten auch dieses Jahr ein deftiger Braten und die traditionellen Klöße auf den Tisch kommen – wenn auch in kleinerer Runde. Die gelblichen Rundlinge sind schließlich schon lange mehr als nur ein Sattmacher. „Für viele Menschen sind sie ein Stück Heimatgefühl und Kloß-Kultur“, sagt Fritjof Hahn, der Chef der Kloßmanufaktur in Heichelheim bei Weimar. Seine Sicht auf die Dinge nimmt er nicht nur aus dem guten Absatz. Er weiß, dass auch Thüringer inzwischen überall in Deutschland und in der Welt zu Hause sind. „Nicht wenige junge Leute rufen irgendwann zu Hause an und wollen wissen, wie die Oma oder die Mutter eigentlich immer die Thüringer Klöße gemacht haben, um es mal selbst auszuprobieren.“ Hahn hat auch die Ergebnisse einer Emnid-Umfrage vor einigen Jahren noch im Kopf, bei der es darum ging, wie die Region zwischen Werra und Saale im Herzen Deutschlands insgesamt wahrgenommen wird. „Nicht-Thüringer nennen immer die Rostbratwurst zuerst, für die Menschen im Land selbst standen aber zu 64 Prozent die Thüringer Klöße ganz vorne“, weiß er.

Fritjof Hahn, Chef der Kloßmanufaktur und Kloßwelt, im Museum an einem Modell der Kloßproduktion.
Fritjof Hahn, Chef der Kloßmanufaktur und Kloßwelt, im Museum an einem Modell der Kloßproduktion.
Das Gebäude der Thüringer Kloß-Welt
Die Thüringer Kloß-Welt in Heichelheim

Und das ist bei Weitem kein Trend, der sich erst entwickelt hat, wie Fritjof Hahn inzwischen weiß. Besonders berührt hat ihn ein Leserbrief aus einer alten Zeitung aus dem Jahre 1943, die ihm in diesem Jahr in die Hände fiel. Ein Soldat hatte von der Front aus ein Gedicht über die Thüringer Leibspeise nach Hause geschickt, das dann auch gedruckt wurde. „In diesen schlimmen Zeiten damals haben ihn die Klöße an die Familie und die Heimat erinnert und vom Grauen abgelenkt.“ Zeilen, die auch nach vielen Jahrzehnten noch unter die Haut gehen …

Generationen über Generationen haben dem Nationalgericht stets die Treue gehalten. Irgendwie war der Kloß immer dabei – in guten wie in schlechten Zeiten. Wer nun wirklich die Ersten waren, die einst die Originale auf den Teller der Familie brachten, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Meininger im Süden Thüringens sind sicher, dass vor Jahr und Tag in ihrer Stadt die Klöße erfunden wurden. Die Schöpferin soll dem Bürgermeister in jener Zeit
das Rezept überreicht haben, damit es bewahrt bleibt – erzählt jedenfalls die Legende. „Hier hast Du das Rezeptum – Hüt es!“, soll sie einst gesagt haben. Und seither heißen die Klöße in Meiningen und Umgebung „Hütes“.

Fakt ist für Fritjof Hahn, dass die Geschichte der Klöße natürlich auch die Geschichte der Thüringer Kartoffeln ist, denn ohne die Knollen gäbe es die Leibspeise der Thüringer nicht. „Bereits 1739 baute Herzog Ernst August I. von Sachsen-Weimar erstmals auf den Äckern rund um Heichelheim Kartoffeln an“, erzählt der Chef der Kloßmanufaktur, die heute Ablig Feinfrost GmbH heißt. Die Abkürzung steht für Absatz- und Liefergesellschaft, die nach 1990 aus der früheren Zwischenbetrieblichen Einrichtung Kartoffelverarbeitung hervorging. Schon zu DDR-Zeiten drehte sich in dem Spezialbetrieb schließlich alles um die Kartoffel, aber später auch um die Klöße und tiefgekühltes Gemüse. „Wir haben in den 1960er-Jahren Pionierarbeit für Tiefkühlprodukte geleistet“, sagt Hahn, der gelernte Rinderzüchter mit Abitur und heutige Ablig-Chef. „Um Möhren, Erbsen oder eben auch Kloßmasse einzufrieren und an den Kunden zu bringen, hatte die Staatliche Agentur für Werbung mit uns eine einheitliche Faltschachtel für alle Produkte entwickelt, die ohne Klebstoff zusammenhielt – das war schon eine Sensation. Leider ist das zu DDR-Zeiten nicht patentiert worden, heute verdienen andere damit das Geld.“ Und so begann auch die Geschichte der Kloßproduktion in Heichelheim schon in den 1970er-Jahren, als Kartoffeln erstmals gerieben und ausgepresst wurden.

Thüringer Klöße waren Begehrte Bückware

Die Kloßmasse war begehrt. Fritjof Hahn spricht von „Bückware“ – also von Ware, die man nicht einfach so überall bekam und nach der sich der Verkäufer hinter der Ladentheke den Buckel krumm machen musste, weil sie doch ein wenig versteckt lag. Hausfrauen griffen gerne nach dem Angebot, erleichterte es doch die sonntägliche Arbeit ungemein. Schließlich ist das Klößemachen mit einigem Aufwand verbunden. Zunächst werden zwei Drittel der Kartoffeln einer bestimmten Menge roh gerieben und danach in einem Kartoffelsäckchen ausgepresst, bis die Masse trocken ist. Die Flüssigkeit wird aufgefangen, denn hier setzt sich die Stärke ab – und die ist wichtig. Das übrige Drittel der Knollen wird im Salzwasser zu einem Brei weichgekocht, der dann mit dem Kartoffelschab samt der Stärke verknetet wird. Mit Salz abgeschmeckt kommen beim Formen des Kloßes nun noch die in Butter gerösteten Brotwürfel in die Mitte des Rundlings – und dann geht es auch schon ins heiße Wasser zum Garen.

Historisches Foto: Frauen an einem Tisch bei der Produktion von Thüringer Klößen
Eine lange Tradition: Frauen schälen Kartoffeln zur Herstellung von Thüringer Klößen.

Inzwischen kann jeder entscheiden, auf welcher Stufe der Kloßherstellung er sozusagen einsteigt. Schließlich verlassen den Heichelheimer Betrieb nicht nur der rohe Kartoffelschab, sondern auch die fertige Masse samt gerösteten Brotwürfeln, die dann zu Hause allerdings noch zu Klößen geformt werden müssen. Von Jahr zu Jahr beliebter wurden allerdings die „Echten Thüringer Sonntagsklöße“, die tiefgefroren vom Supermarkt in die Haushalte kommen und fix und fertig sind. Sie müssen
nur noch zum Ziehen ins kochende Wasser – und das sogar mit einer ganz besonderen Visitenkarte. Auf der Packung steht immerhin genau, welcher Landwirt welche Sorte auf welchem Feld angebaut hat und wie lange der „Kartoffelweg“ war – mitunter sind es nur wenige Kilometer.

Thüringen allerdings ist schon lange kein Kartoffelland mehr. „Von der Anbaufläche von 50.000 Hektar im Jahr 1990 sind noch 2.000 Hektar übriggeblieben“, sagt Hahn. Zudem gebe es hierzulande zu wenige Beregnungsflächen und deshalb stünden hinter Ertragssicherheit und Qualität immer öfter ein paar Fragezeichen. Deshalb kauft die Manufaktur nun auch noch Kartoffeln für bestimmte Produkte aus Nachbarregionen zu. Mit den Lieferanten aus Thüringen haben die Heichelheimer Kloßmacher seit 1997 Kontrakte. „Sie brauchen Sicherheit und wir auch“, so Hahn. „Das bedeutet derzeit aber auch, dass sie dreimal mehr bekommen als den Marktpreis.“ Auf den Preisdruck der Discounter will und kann sich die Ablig GmbH deshalb nicht einlassen. „Qualität hat ihren Preis.“ Schließlich müssten die Landwirte ja auch alle Entwicklungen mitgehen. „Die Kartoffel ist für einen guten Kloß natürlich das A und O“, sagt Hahn, der längst den Anbau zur Chefsache gemacht hat.

Zehn bis 15 neue Sorten hat das Unternehmen stets im Test. Ganz klein wird angefangen – aus wenigen Kilos der neuen Knollen werden dann Klöße produziert – haut alles hin, wird zunächst erst einmal ein Hektar beim Landwirt angebaut. Ist auch das erfolgreich, wird mehr daraus. War es zu DDR-Zeiten die Adretta, die vornehmlich zum Einsatz kam, so wurde es dann vor allem die Agria. „Schön gelbfleischig und mit einem bestimmten Stärkegehalt muss die Kartoffel sein“, sagt der Unternehmer mit Blick auf die Klöße. Doch es gehört noch mehr dazu. „Die Sorten dürfen auch nicht zu kompliziert im Anbau sein, müssen Trockenstress wegstecken und sich gut lagern lassen.“ Der kleinste Kartoffelanbauer bewirtschaftet gerade mal zehn Hektar.

Thüringer Klöße: Handarbeit noch immer gefragt

Der Anbau ist also schon eine Geschichte für sich, die Produktion erst recht. Die vielen Handgriffe der Hausfrauen beim Schälen, Pressen, Kneten und Formen in technische Verfahren umzusetzen, war eine Meisterleistung. Bis 1994 wurden im Betrieb die Klöße noch von Hand geformt. „Mit einer Art Schraubenzieher wurde ein Loch in den Kloß gemacht, um so die Semmelstücke in der Mitte unterzubringen“, blickt Hahn zurück. In Butter wurden die Brotwürfel in riesengroßen Bratpfannen aus Gußeisen zuvor geröstet. Alles Handarbeit, die irgendwann an ihre Grenzen stieß. Immerhin 10.000 Tonnen Kartoffeln werden pro Jahr in Heichelheim verarbeitet. Und so wurde nach technischen Lösungen getüftelt. Wie die Brötchen heute in den Kloß kommen, ist eines von vielen Betriebsgeheimnissen. Um die 120 Patente hat das Unternehmen inzwischen angemeldet.

Zwei Mitarbeiterinnen bei der Produktion von Thüringer Klößen

Handarbeit ist bei der Kloßproduktion nach wie vor gefragt.

Kartoffelpuffer aus Heichelheim auf dem Fließband

Auch Kartofelpuffer – goldgelb vorgebraten – gehören zu den Produkten aus Heichelheim.

Eine Mitarbeiterin verpackt Thüringer Klöße in Handarbeit

Handarbeit ist bei der Kloßproduktion nach wie vor gefragt.

Als Manufaktur sieht man sich dennoch nach wie vor, denn Handarbeit ist auch heute noch gefragt. Zwar besorgt die Technik das Kartoffelschälen, doch Frauen putzen beispielsweise mit Als Manufaktur sieht man sich dennoch nach wie vor, denn Handarbeit ist auch heute noch gefragt. Zwar besorgt die Technik das Kartoffelschälen, doch Frauen putzen beispielsweise mit dem Messer nach. Per Hand kommen die gefrorenen fertigen Klöße zudem in die Verpackungen und werden so noch einmal angeschaut, denn nur beste Qualität darf auf Reisen gehen. Für die arbeitsaufwendige Produktion sprechen auch die 130 Mitarbeiter, 80 Prozent davon sind Frauen. Gearbeitet wird in drei Schichten. Neben den fertigen Klößen und Kloßteigen verlassen seit zwei Jahren auch Kloßpommes den Betrieb, Kartoffelpuffer stehen ebenso hoch im Kurs.

Und weil Tradition großgeschrieben wird und es alljährlich das „Sommerloch“ vor der neuen Kartoffelernte gab, setzte man vor Jahren schon auf die Eisproduktion. Was für die warme Jahreszeit angedacht war, läuft mittlerweile mehrere Monate – mit alten Eiskrem-Klassikern und Erinnerungen an den Geschmack der Kindheit. Zum Eisbecher gibt es so auch die kleinen Plastelöffel von einst, auf denen noch die Namen von damals wie Rita, Egon, Heike oder Rolf stehen.

Hauptdarsteller im Tatort

All das erfahren und erleben kann man auch im betriebseigenen Museum, der „Thüringer Kloßwelt“, die den Weg von der Kartoffel bis zum Kultgericht auf immerhin 3.000 Quadratmetern erzählt. Hier ist sogar der Riesen-Glasbehälter zu sehen, in dem 2010 ein Guiness-Weltrekord aufgestellt wurde. In dem Zylinder garte im siedenden Wasser damals der größte Kloß der Welt, der es auf 365 Kilogramm brachte. Acht Stunden und 27 Minuten dauerte das Ganze, hatten Ingenieure zuvor sogar ausgerechnet. In der Kloßwelt kann man sich zudem die Original Thüringer Klöße mit Rouladen oder Gulasch munden lassen. Das Fleisch kommt aus Oberweißbach am Rennsteig. So wie im eigenen Betrieb setzt man auch hier also auf Regionales – und ebenso im Werksverkauf. Der bietet neben den eigenen Produkten sowie Büchern oder Kloßpressen auch viele Spezialitäten von Partnerunternehmen an. Doch man kann nicht nur schauen und kosten, sondern auch selbst schälen, reiben oder formen und viel über die Geschichte der Thüringer Klöße erfahren. Derzeit gibt es allerdings in der Kloßwelt Einschränkungen wegen der Corona-Auflagen.

An der Ausstellung wird aber auf alle Fälle weiter gearbeitet. Vielleicht kommt irgendwann sogar einmal ein neues Kapitel hinzu, das sich dem Kloß als Hauptdarsteller im Film widmet. Denn 2018 wühlten immerhin die Weimarer Tatort-Kommisare sozusagen im Kloß-Milieu und drehten hier den Sonntagabend-Klassiker. „Bei laufender Produktion – das war unsere Bedingung“, sagt Fritjof Hahn. Er selbst hatte irgendwann einmal in einem Gespräch den Fernsehleuten diesen Floh ins Ohr gesetzt. Da wusste er noch nicht, dass der Chef des Kloßbetriebes im Film ermordet, gefrostet und geschreddert werden sollte. Als er das Drehbuch in die Hand bekam, sorgte er gleich schon mal für eine erste Änderung. „Da stand Knödel statt Kloß“, erzählt er. Inzwischen ist auch das Geschichte. „Ich weiß allerdings bis heute nicht, wer der Mörder war.“

Seit September haben die Kloßmacher Hochkonjunktur. Wenn die neue Kartoffelernte im Anmarsch ist, wächst mit Beginn der kalten Jahreszeit alljährlich auch wieder der Appetit auf deftigen Braten. Und dazu gehören in Thüringen zweifellos auch die Klöße – zu Weihnachten erst recht. Wer Reh, Ente oder Rouladen zubereitet, muss allerdings das Soßenmachen beherrschen – und für reichlich Volumen sorgen. Die Thüringer Klöße gelten schließlich als „Soßenaufnahmewunder“. „Das haben wir vom Max-Plank-Institut sogar schwarz auf weiß“, sagt Hahn. Und dafür gibt es Gründe. Erst wird den Kartoffeln durch das Pressen Wasser entzogen. Kommt dann wieder Flüssigkeit hinzu, gibt es durch die Stärke reichlich „Klebstoff“. Wird der dampfende Kloß dann mit der Gabel genüsslich in die Soße gedrückt, wird diese förmlich aufgesaugt, um im Nu vom Teller zu verschwinden. Dann darf es gerne noch eine Schöpfkelle mehr sein, um die Klöße samt Brüh‘ in vollen Zügen genießen zu können.