Konflikte auf dem Land: Gibt es einen Dorffrieden?
Die Idylle vom harmonischen Leben auf dem Land – ist sie nur Traum oder Realität? Wen begrüßt man mit Kopfnicken, wen mit Namen, und mit wem entwickelt sich ein Gespräch? Was diese Fragen mit Frieden, Landleben und Zusammenhalt zu tun haben, erklärt Prof. Dr. Claudia Neu in einem Interview.
Das Interview führte Carina Gräschke
Frau Professor Neu, was bedeutet Frieden für Sie?
Als Kind der Nachkriegszeit, das in den 1970er-Jahren aufgewachsen ist, war in meinem Alltag kaum etwas anderes als Frieden, Demokratie und Wohlstand vorstellbar, andererseits bin ich noch sehr geprägt von den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern von Krieg und Vertreibung.
Hat sich Ihr Blick durch den Krieg in der Ukraine verändert?
Es gab auch schon vor dem Ukrainekrieg gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege in Europa, aber nun erlebe ich die Zerbrechlichkeit von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden als sehr nah.
Warum ist Frieden nicht nur im großen Maßstab, sondern auch im Kleinen so wichtig?
Konflikte und Dissonanzen können sehr produktiv sein, um ein neues demokratisches Miteinander auszuhandeln. Hass, Unfrieden und Krieg hingegen zerstören das soziale Zusammenleben und kosten viele Ressourcen, nicht nur materiell, sondern auch emotional. Menschen verlassen ihre Heimat, wenn sie für sich keine (Über-)Lebenschancen mehr sehen und damit geht auch Humankapital vor Ort verloren. Dass Kriegstraumata – auf Täter- wie Opferseite – über Generationen hinweg weitergegeben werden, wissen wir ja heute.
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Konflikte auf dem Land: Reibung erzeugt Wärme
Frieden ist auch im Dorf wichtig. Gibt es Dorffrieden überhaupt?
In den vergangenen Jahren, in denen ich bei meiner Feldforschung so viele Dörfer besucht habe, erschien es mir eher so, dass räumliche Nähe nicht unbedingt Frieden, sondern Dissonanz erzeugt. Das Dorfleben ist wohl nicht ganz so friedvoll wie gern angenommen: alte Feindschaften, Konflikte und Rivalitäten spielen im Zusammenleben eine große Rolle. Das ist aber nicht unbedingt ein Widerspruch zu dem von vielen Dorfbewohnern empfundenen Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl. Reibung erzeugt ja bekanntlich Wärme.
Gibt es dann dieses gute Landleben überhaupt, nach dem sich immer mehr Menschen in der Stadt sehnen?
Die Sehnsucht nach ländlichem Idyll ist kein neues Phänomen, denn schon die alten Griechen suchten das ursprüngliche Leben in Arkadien auf der Peleponnes. Bereits seit der römischen Kaiserzeit existiert eine idealisierte Naturbeschreibung eines locus amoenus, eines lieblichen Ortes, an dem Liebende sich auf Blumenwiesen und an plätschernden Bächlein vergnügen. Allerdings ist erst im Zeitalter der Industrialisierung die Stadt als Gegenbild zum Land konstruiert worden. Die Großstadt steht nun sinnbildlich für Anonymität, Schmutz und moralische Abgründe. Es geht also gar nicht so sehr um das „echte Leben“, vielmehr um den Gegenentwurf zu einer häufig als stressig und unkontrollierbar erlebten Welt.
Ein Wunschdenken also?
Gewissermaßen. Es geht ja auch um idealisierte Vorstellungen vom Landleben. Allerdings kannte die Kunst und Literatur von jeher auch den locus terribilis, den schrecklichen Ort, an dem Menschen schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert sind wie im Gebirge, wo Kälte und Grausamkeit herrschen können. In den vergangenen Jahren sind nicht nur Landlust-Hefte in Millionenhöhe verkauft worden, sondern auch viele Romane entstanden, die die unschönen Seiten des Landlebens wie soziale Kontrolle, Missbrauch und Unfrieden behandeln.
Konflikte auf dem Land: Ortstreue steigert Zusammenhalt
Und was ist mit dem Zusammenhalt? Ist er nicht typisch Land?
Zusammenhalt entsteht vor Ort vor allem dadurch, dass man sich begegnet. So entsteht der Eindruck, man würde sich kennen. Im Dorf treffen sich die Menschen womöglich häufiger und leben manchmal viele Jahrzehnte am selben Ort.
Gibt es Unterschiede?
Es gibt aber sehr feine Abstufungen wie man sich auf der Straße begegnet: Wird beim Grüßen nur mit dem Kopf genickt, wird mit Namen gegrüßt oder entsteht sogar ein Schwätzchen? Wer darf die Wohnung betreten, und wer kommt nur bis zum Gartenzaun? Die sozialen Interaktionsregeln im Dorf sind sehr fein austariert. In alten Stadtquartieren oder Kleinstädten geht es aber auch nicht viel anders zu, auch hier funktionieren die Nachbarschaften gut.
Wenn ich weiß, wo und wie jemand lebt, die Eltern und Verhältnisse kenne – warum schafft nicht allein das Wissen voneinander Frieden?
Lügen und Geheimnisse, Feindschaften und Freundschaften – das alles wird über Jahre im Dorfgedächtnis weitergegeben. Das kann eben auch sehr belastend sein. Armut im ländlichen Raum kann sehr hart und schmerzhaft sein, denn sie lässt sich eben nur schwer verstecken. Zudem beruhen die dörflichen Beziehungen auf Reziprozität, also darauf, dass man einmal Erhaltenes irgendwann wiedergeben muss – etwa Unterstützung beim Bau. Fehlen aber die Möglichkeiten etwas zurückzugeben, unterbleibt die Bitte nach Unterstützung oft. Viele empfinden Scham, nichts oder nur wenig zur Gemeinschaft beitragen zu können.
Dorffrieden: leben auf dem Dorf ist beeinflusst von demografischen Wandel
Welche Faktoren tragen zur Entstehung von sozialem Frieden auf dem Land bei?
Ich würde sozialen Frieden mit sozialem Ausgleich übersetzen. In Deutschland kennen wir den politischen Leitgedanken der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Der diesen räumlichen Ausgleich zwischen den Regionen herstellen soll. Dies wird erreicht über vorhandene Arbeitsplätze, intakte Infrastruktur, attraktive Freizeit- und Mobilitätsangebote, Begegnungsorte. All das ermöglicht Menschen Teilhabe an der Gesellschaft. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist in Deutschland allerdings nicht überall gegeben. Es gibt ländliche Regionen, in denen ist die Ausstattung mit Arbeitsplätzen und Infrastruktur weit überdurchschnittlich, in anderen weit unterdurchschnittlich.
Wie lässt sich Dorffrieden fördern? Als Einzelperson mit Offenheit, Respekt und der Bereitschaft, Konflikte zu lösen. Aber jenseits dieser Wege?
Dorffrieden wird öffentlich ausgehandelt. Dafür müssen sich die Menschen aber erst einmal öffentlich begegnen – etwa im Verein. Die Möglichkeiten zur Begegnung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten jedoch deutlich verändert. Der demografische Wandel hat Vereine schrumpfen, soziale Medien neue Kontaktmöglichkeiten entstehen lassen und Corona hat das Interesse an öffentlicher Mitwirkung deutlich gebremst. Liegen nun die Dörfer im Clinch? Das kommt mir nicht so vor. Viele vermissen Begegnungsmöglichkeiten, doch sind auch mit ihrem privaten Glück ohne viele Kontakte zu anderen ganz zufrieden.
Gemeinschaftsinitiativen eröffnen raum zur Kommunikation
Das klingt nach Rückzug ins Private. Was ist mit Gemeinschaftsinitiativen, Engagement?
Gemeinsame Aktivitäten stärken den lokalen Zusammenhalt, die Mitwirkenden schaffen etwas zusammen, sie verändern mit ihrem Engagement das Leben vor Ort und gründen Soziale Orte. Und hier müssen nicht einmal alle immer mitmachen, die einen bringen vielleicht einmal einen Kuchen vorbei oder schwingen die Grillzange beim Sommerfest, die anderen meckern lieber am Zaun. So wird ein gemeinsamer Kommunikationsraum aufgespannt, der mehr Menschen einbindet als nur die Top-Aktiven. Das ist für die Vitalität eines Dorfes sehr wichtig.
Wie wird ein Dorf zu einem wirklich Sozialen Ort?
Leider gibt es hierfür keinen Bauplan. Soziale Orte reagieren auf Bedarfe vor Ort.
Können Sie das konkretisieren?
Wenn zum Beispiel eine Kneipe fehlt, dann gründen die Bürgerinnen und Bürger eine Genossenschaftskneipe. An einem anderen Ort fehlt womöglich etwas Anderes. Wichtig für das Entstehen Sozialer Orte ist, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – Zivilgesellschaft, Verwaltung, Unternehmen – zusammenschließen, um etwas auf die Beine zu stellen. Auch hier gilt, dass die Mitwirkenden nicht von vornherein feststehen, sondern sich je nach Ressourcen und Möglichkeiten zusammenschließen. So entstehen große Netzwerke oder ganz kleine Initiativen, die Begegnungs- und Kommunikationsräume vor Ort schaffen.
Gleichwertigkeit auf dem Dorf schaffen und erhalten
Welche Trends sehen Sie für die Zukunft auf dem Land? Welche Herausforderungen müssen angegangen werden?
Der demografische Wandel stellt Deutschland in den kommenden Jahren vor große Herausforderungen, entlegene ländliche Räume werden hier besonders betroffen sein. Damit hängt zusammen, ob es uns als Gesellschaft gelingen wird, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse annähernd für alle Regionen zu schaffen bzw. zu erhalten. Mit Sorge sehe ich, dass die Demokratie nicht mehr von allen Bürgerinnen und Bürgern als beste Staatsform angesehen wird, antidemokratische Kräfte greifen auch in ländlichen Räumen um sich.
Welche Rolle spielt die Landjugend dabei?
Jugendliche, Mädchen und Frauen sind oft unsichtbar in der ländlichen Gesellschaft, die noch immer als „männlicher Raum“ wahrgenommen wird. Freiwillige Feuerwehr, Landwirtschaft, Schützenverein, da können heute natürlich auch Frauen mitmachen, aber trotzdem sind hier weiterhin überwiegend Männer aktiv und sichtbar. Da ist es wichtig, dass es demokratische Jugendorganisationen auf dem Land gibt, die die Position aller jungen Menschen, egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts, vertreten.
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