Bücher in Backstein

Tausende Bücher lassen eine beeindruckende Dorfkirche wieder zu einem lebendigen Ort werden. Das 850 Jahre alte Gotteshaus von Axien in Sachsen-Anhalt ist offiziell eine Bücherkirche. Das dürfte deutschlandweit einmalig sein.

Von Sabrina Gorges
(Fotos: Sabrina Gorges, Bärbel Arlt)

Axien ist kleiner Ort an der Grenze von Sachsen-Anhalt und Sachsen, den man gezielt ansteuern muss. Die Elbe fließt hier und die Dübener und Annaburger Heide sind nichtweit. Alles ist idyllisch. Rundherum liegen Dörfer, oft kaum mehr als ein paar Höfe an einer Durchfahrtsstraße. Die Lutherstadt Wittenberg befindet sich etwa eine 40-minütige Autofahrt entfernt.

Wer auf Axien zufährt, egal ob mit dem Auto oder als
Radtourist auf dem Elbe-Radweg, der kann kaum an der beeindruckenden
Dorfkirche vorbeisehen. Groß und stattlich steht sie da und glänzt spätromanisch backsteinrot in der Sonne. Im Inneren sehen Besucher Chorraum, Altar, Sakristei, alte Wandbilder und eine Orgel, die nicht mehr bespielbar ist. Und sie sehen: Bücher. Tausende sind es, denn die Dorfkirche Axien ist eine Bücherkirche. Ein wohl deutschlandweit einmaliges Projekt, das nicht nur den Kirchenbau, sondern das ganze Dorf ein Stück weit wiederbelebt hat. Seit April 2014 ist das rund 850 Jahre alte Gotteshaus ein Ort der Predigt, der Literatur und der Kultur. Gott sei Dank!

Annette Schmidt, Projektmanagerin der Bücherkirche.

Allerdings hat die Corona-Pandemie auch hier Spuren hinterlassen und das Gotteshaus für 48 Tage in Quarantäne geschickt. „Doch seit dem 4. Mai ist es wieder geöffnet, freut sich Projektmanagerin Annette Schmidt. „Allerdings nehmen wir momentan keine Bücher an. Doch Besucher können gern schauen und stöbern und sich das eine oder andere Buch mitnehmen.“ Auch alle bis Ende Juli geplanten Lesungen und Vorträge sind abgesagt. Annette Schmidt hofft darauf, dass die Buchliebhaber eigenverantwortlich auf die Hygienvorschriften achten. „Ich habe Vertrauen in die Vernunft unserer Besucher“, zeigt sie sich optimistisch, denn die Kirche ist nicht immer besetzt.

Die Germanistin aus der Lutherstadt Wittenberg betreut das Projekt und hat ein bisschen Struktur in den kirchlichen Bücherschrank gebracht. Denn was 2014 mit einer kleinen Stiege voller Bücher begann, wuchs im ersten Jahr auf rund 500 Exemplare an und dürfte nun bereits die 10.000er-Marke erreicht haben. „Wir können das nur schätzen. Wir wissen ja nicht genau, was reinkommt und rausgeht“, sagt sie.

Bücherkirche als Tauschbörse für Lesefreunde

Dem Grundgedanken „Ein Buch für ein Buch“ folgend, kann jeder an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr in der überdimensionalen Bücherzelle stöbern, etwas mitnehmen oder eben auch etwas dalassen. Die Tür des großen Bücherschranks war – bis Corona kam – nie verschlossen. Auch Diebstahl und Vandalismus gab es nicht.

„Wir sind wohl von Gott beschützt“, sagt die Projektmanagerin mit einem Lächeln. Dann hebt sie den Finger und ergänzt: „Viele Ehrenamtliche fühlen sich dem Projekt verbunden und schauen regelmäßig nach dem Rechten.“ Das war auch in den vergangenen Wochen so. Denn obwohl die Kirchentür verschlossen war, konnte das Areal rund um das Gotteshaus betreten werden. Gäste wandeln dort ein bisschen auf den Spuren der Dorf- und Kirchengeschichte. staunen über Grabsteine aus dem 18. Jahrhundert und eine große Kirchenglocke, die vor etwa 20 Jahren bei Restaurierungsarbeiten durch zwei kleine Glocken ersetzt wurde.

Die Bücherkirche ist eine erquickende Tauschbörse für Literatur nahezu aller Genres. „Bücher können kostenlos gebracht und mitgenommen werden“, erklärt die 36-Jährige. Das eine bedingt aber nicht das andere. „Manche bringen kistenweise Bücher, andere nehmen sich nur ein Exemplar mit. Oder eben umgekehrt.“ So wie ein Mittfünziger, der eine schwere Kiste Bücher hinausträgt. „Jetzt muss ich aber gehen, sonst finde ich kein Ende“, sagt er wohl mehr zu sich selbst und freut sich sichtlich über die aus etwa 20 Bänden bestehende Enzyklopädie, die er in der Bücherkirche Axien gefunden hat. Im Hinausgehen sind noch schnell zwei Romane aus einem Bücherregal im Eingangsbereich in seiner Kiste gelandet, nun verlässt der begeisterte Lesefreund das kleine Gotteshaus. Bezahlt hat er für seinen „Einkauf“ nichts, aber etwas in die Spendenbüchse gesteckt.

Die Bücherkirche Axien – ein Lebendiger Ort der Kultur

Niemand muss sich irgendwo melden und es gibt auch keine Beschränkungen. Einige Besucher sitzen gern einen Moment lang an dem großen Tisch und schmökern ein bisschen, andere sehen sich gern die Kunstwerke an, die an den Wänden hängen.

Denn mit Ausstellungen, Lesungen und Kinoabenden wird die Bücherkirche ihrem Anspruch an einen lebendigen und vielseitigen Kulturort innerhalb des Dorfes und der Region gerecht. Doch im Fokus stehen die Bücher. Es gibt sie im hinteren Teil der Kirche, rund um die nicht mehr funktionstüchtige Orgel auf der Empore und in der Sakristei. Projektmanagerin Annette Schmidt hat mithilfe von Fördermitteln dafür gesorgt, dass der örtliche Tischler Regale bauen kann, die sich hervorragend ins Kircheninterieur einfügen. So entsteht der Eindruck, die Bücher waren schon immer ein Teil des Kirchenraums.

Ortspfarrer Hans-Jörg Heinze hat die Bücherkirche direkt im Vorgarten, denn er bewohnt das Pfarrhaus nebenan. Der 55-Jährige ist für Axien und 15 weitere Predigtstätten in einem Umkreis von etwa 25 Kilometern zuständig. Seit 2004 ist Heinze vor Ort und hat den „Aufstieg“ der Bücherkirche miterlebt und mitgestaltet. „Es ist schön zu sehen, dass dadurch Menschen in die Kirche kommen, die sie sonst nie betreten würden“, sagt er. Die Bücher seien „Türöffner“, die das zwischen 1997 und 2000 mit Millionenaufwand aufwendig sanierte Gotteshaus lebendig halten.

Doch gerade am Anfang gab es auch Skeptiker, sagt Heinze. Einige Menschen im Dorf habe schon allein die Idee befremdet. „Viele kamen zu mir und fragten: Kann denn ein Krimi in der Kirche liegen? Muss das
sein?“ Er kann, muss es aber natürlich nicht. „Mich stören die Bücher nicht. Ich begrüße das. Im Altarraum und auf den vorderen Bänken gibt es ja keine Bücher.“ Platz für Andachten und Gottesdienste ist weiterhin genug. Heinze hat beobachtet, dass die anfangs skeptischen Menschen dem Projekt gegenüber mittlerweile offen geworden sind. „Mich freut es, wenn ich Jemanden treffe, der sagt: Ich war vorher nie drin in der Kirche. Aber ich habe mir neulich ein Buch geholt und mich mal umgesehen.“

Kirche neu denken

Der Ursprung des Bücherkirchen-Vorhabens liegt in einem Projekt der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland (EKM), das sich „Erprobungsräume“ nennt und den Anspruch hat: Kirche neu denken. Das Projekt soll andere Gemeindeformen fördern etwa durch fachliche und juristische Beratung und Geld. Die im Frühjahr 2014 von der Initiatorin Sabine Griehl mit Unterstützung der Gemeinde ins Leben gerufene Axiener Bücherkirche ist ein sogenannter kleiner Erprobungsraum. Das Ziel: Einen Ort zum Verweilen, Lesen und Austauschen schaffen. Noch bis Juli kommt die Bücherkirche auch in den Genuss einer Förderung durch den Europäischen Sozialfonds (ESF).


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